von Jan Vedder
Gemeinsame Hospitationen gehören an den meisten Studienseminaren und Ausbildungszentren zum Kerngeschäft. Eine Gruppe von angehenden Lehrer*innen hospitieren im Rahmen des Fachseminars bei einem der Mitreferendare im Unterricht. Anschließend wird die Stunde besprochen und anhand von Schwerpunkten reflektiert. Üblicherweise öffnen in Niedersachsen auch die Fachleiter*innen/Fachseminarleiter*innen ihren Unterricht und ermöglichen den Referendaren eine Mitschau mit anschließender Besprechung. Trotz der zunächst vorherrschenden Skepsis und Zurückhaltung werden diese Situationen im Nachgang oft als sehr gewinnbringend und nachhaltig empfunden. Ein gemeinsamer fachlicher und pädagogischer Austausch wird als sehr bereichernd empfunden (erlebt?).
Oft liegt der Schwerpunkt der Beobachtung auf der agierenden Lehrperson und damit auf der Lehre und der ‚Inszenierung’ von Unterricht. Der Blick auf das Lernen bleibt eher ungenau (verborgen?).
In diesem Beitrag möchten wir eine Alternative vorstellen, die wir kürzlich mit den Referendaren (Pädagogikseminar mit 18 angehenden Lehrer*innen) ausprobiert haben: Die Lesson Study Methode. ‚Lesson Study’ heißt wörtlich übersetzt ‚Unterricht untersuchen oder erforschen’. Dabei geht es explizit um die Wirkung des Unterrichts auf das Lernen der Schüler*innen. Gewonnene Erkenntnisse sollen dazu beitragen, dass Lehrpersonen Kinder und Jugendliche beim Lernen noch besser unterstützen, ihren Unterricht anpassen und weiterentwickeln. Der Fokus von Lesson Study liegt demnach vor allem bei den Lernenden und ihrem Lernprozess. Unterricht durch die Brille der Lernenden zu betrachten ist Anspruch und Herausforderung zugleich.
Im September hatte das Kollegium der Ausbildenden das Vergnügen, sich an einem Fortbildungstag mit der Methode zu beschäftigen. Die Fortbildung wurde von Roland Knoblauch, einem ausgewiesenen Experten, Fachberater für Schulentwicklung und Fortbildner für Berufliche Schulen in Baden-Württemberg, durchgeführt.
In aller Kürze
Lesson Study (japanisch jugyō kenkyū) ist ein Prozess zur Verbesserung des Unterrichts, der seinen Ursprung in der japanischen Grundschule hat. Dabei arbeiten Lehrende in einer kleinen Gruppe zusammen, besprechen Lernziele, planen eine eigentliche Unterrichtsstunde (auch "Forschungsstunde" genannt), beobachten, ob und wie ihre Ideen im Live-Unterricht mit den Schüler*innen funktionieren und berichten dann über die Ergebnisse. (vgl. Wikipedia)
Lesson Study ist eine Form kooperativer und evidenzbasierter Unterrichtsreflexion, die folgende Ziele verfolgt:
- Weiterentwicklung von Unterrichtsqualität
- Das Lernen der Schüler*innen besser zu verstehen
- Förderung eines schüleraktiven Lernens
- Erprobung neuer Lösungsansätze
- Erweiterung des Handlungsrepertoires von Lehrenden
- Förderung der Kooperationen von Lehrer*innen und Lehrern.
Ausführlichere Informationen zu Lesson Study von Roland Knoblauch gibt es unter anderem unter hier und hier.
Vom IQ zum WeQ
Aus dem oberen Absatz wird schon deutlich, worin der Kern der Methode besteht: Kooperation. Gemeinsame Planung, gemeinsame Entwicklung einer Forschungsfrage und eine gemeinsame Auswertung und Analyse im Anschluss. Im 21. Jahrhundert dürfen sich Lehrpersonen nicht länger als Einzelkämpfer und Alleinunterhalter verstehen. Vom IQ zum WeQ, denn das Wissen ist nicht in den Köpfen, sondern zwischen den Köpfen (nach David Weinberger). Es geht darum, den Austausch über (zeitgemäßes) Lernen zu fördern, Synergien zu nutzen, voneinander zu profitieren und seinen eigenen Blickwinkel zu vergrößern.
Umso passender, dass dieser Beitrag erstmalig auf diesem Blog nicht von mir alleine geschrieben wird, sondern gemeinsam mit Julia Wischeropp entstanden ist. Julia ist seit Februar 2019 Referendarin in meinem Seminar (offiziell in NDS ‚Lehrerin im Vorbereitungsdienst’ (LiVd)) und war sowohl bei der Einführung der Methode durch mich Anfang November, als auch bei der Durchführung und Beobachtung in meinem Unterricht dabei.
Einführung und Planung
Die Umsetzung von Lesson Study verläuft typischerweise in 4 Phasen:
- Einführung
- Gemeinsame Planung
- Durchführung/Beobachtung
- Auswertung & Reflexion
Für die gemeinsame Einführung (Phase 1) im Seminar habe ich folgende Präsentation erstellt:
Die Planung der Stunde konnte aus gegeben Rahmenbedingungen (Zeit, verschiedene Fächer, Seminargröße) nicht gemeinsam gestaltet werden, sodass ich eine Stunde im Rahmen unseres neuen Matheprojekts ‚Freizeitpark’ (Blogbeitrag folgt 2020) geplant und durchgeführt habe (Phase 3). Die Forschungsfrage formulierte ich wie folgt: Wie können wir Unterricht durchgängig lernwirksam gestalten und Lernende dazu befähigen ihren Lernprozess eigenverantwortlich zu organisieren?
Durchführung und Beobachtung
von Julia Wischeropp
18 angehende Lehrer*innen – im ersten Moment eine große Gruppe, die sich während der nach dem AVIVA-Modell geplanten Unterrichtsstunde im Raum bewegte und versuchte Schüler*innen und deren Lernaktivitäten einzuschätzen. Für die Beobachtung wurden sechs Schüler*innen von Jan Vedder ausgewählt, die von drei LiVd unabhängig voneinander beobachtet wurden. Die Praxis zeigte, dass der Austausch in den Kleingruppen über die Beobachtung einzelner Schüler*innen und die anschließende gemeinsame Auswertung ein enormes Potenzial birgt, Lernaktivität in offenen Unterrichtssettings zu reflektieren.
Die Frage, die sich bereits in der Einführung zur Lesson Study stellte, war, inwieweit und anhand welcher Faktoren man die Lernaktivität des zugewiesenen Schülers erkennen könnte. Die kognitive Involviertheit lediglich anhand von der Quantität der mündlichen Beteiligung abhängig zu machen, würde die stillen Denker*innen unterschlagen. Die gezeigte Unterrichtsstunde war jedoch ein Paradebeispiel dafür, wie eigenständige Lern- und Arbeitsprozesse initiiert werden können und ermöglichte aufgrund des offenen Lernsettings ebenso einen offenen Zugang zur Beobachtung der Lernaktivität jedes Schülers und jeder Schülerin.
Die Schüler*innen führten Umfragen durch, sahen Lernvideos und fertigten Notizen an und es wurde gerechnet. Die Arbeitsprozesse der Schüler*innen wurden in Gruppen reflektiert und in Logbüchern festgehalten. Minutiös protokollierten wir LiVd das Verhalten unserer Schüler*innen – beobachteten das Schreiben, Tippen, Innehalten und die Interaktion und Kommunikation innerhalb der Gruppe. Die anfängliche Unsicherheit, die vielseitigen Zugänge und Lernprozesse der Schüler*innen adäquat zu beobachten und ein Schaubild zur Auswertung der Lernaktivität zu erstellen, konnte insbesondere im anschließenden Gespräch in den Kleingruppen von ebenso vielfältigen und intensiven Beobachtungen abgelöst werden.
Es zeigte sich, dass die Empathie, sich auf die Mimik und Gestik eines unbekannten Schülers/einer Schülerin einzulassen, ebenso von Bedeutung für die Einschätzung der Lernaktivität war wie die Beobachtung der aktiven mündlichen Beteiligung am Unterrichtsgeschehen. Im Anschluss an die Unterrichtsstunde konnte der Lernfortschritt jedes einzelnen u. a. anhand der App Bettermarks eingesehen werden. So ließen sich die Beobachtungen mit den tatsächlich bearbeiteten Aufgaben der Schüler*innen abgleichen.
Als besonders spannend erwies sich die Auswertung der Beobachtungen – die letzte Phase der Lesson Study. Wir LiVd verständigten uns auf 10-15 Klebezettel zur Visualisierung unserer Beobachtungen. Die bunten Zettel fanden nach und nach ihren Platz am Whiteboard. Dabei wurden im Auswertungsprozess Zettel nach den Unterrichtsphasen und der dort beobachteten Lernaktivität der Schüler*innen angeordnet und immer wieder neu positioniert. Denn ab wann die Lernaktivität hoch, mittel oder niedrig einzuschätzen war, hing im ersten Moment von den unterschiedlichen Ansichten der LiVd ab und musste stetig hinterfragt und in Beziehung zu den beobachteten Schülern gesetzt werden.
Nachdem alle Zettel platziert und zu Lernaktivitätskurven miteinander verbunden wurden, fanden wir im Wirrwarr aus Zetteln und Linien auffällige Streuungen der Zettel, also Phasen, in denen die Lernaktivität als besonders unterschiedlich hoch wahrgenommen wurde. Dies war weiterhin der Punkt, an dem wir merkten, dass eine gemeinsame Planung der Stunde noch ertragreicher gewesen wäre. Es konnten jedoch gemeinsam erste Handlungsalternativen gefunden werden und das Potenzial der Lesson Study Methode kristallisierte sich umso deutlicher heraus: durch die Beobachtung der Lernaktivität von Schüler*innen Rückschlüsse auf Alternativen in der Unterrichtsplanung zu ziehen.
Kommentar schreiben