Inklusion im schulischen Kontext meint einen pädagogischen Ansatz, dessen wesentliches Prinzip die Wertschätzung und Anerkennung von Diversität in Bildung und Erziehung ist. Es geht um Bildung und Teilhabe für alle, um Bildungerechtigkeit - um ein Menschenrecht. "Das Ziel von Inklusion ist, dass alle Menschen frei und gleich und auf der Grundlage der Menschenwürde und der eigenen Selbstbestimmung miteinander ihr Leben gestalten können." (Quelle: Institut für Menschenrechte).
Selbstverständlich ist Inklusion eine gesamtgesellschaftliche Herausforderung. Vielfalt als Schlüssel und Herausforderung für Demokratie und Politik. Selbstverständlich ist echte Inklusion nicht von heute auf morgen zu realisieren. Die Denke (aka Mindest) der Menschen wird sich erst in 1-2 Generationen verändern. Aber schon heute erlebe ich z.B. Grundschulkinder, die wie selbstverständlich mit den Chancen und Herausforderungen eines hochheterogenen Settings (aka Vielfalt) innerhalb ihrer Lerngemeinschaften (von mir aus nennen wir sie Klassen) umgehen. Es ist also eine Art gelebter Buttom-Up Prozess im Kleinen, der sich nach und nach im gesamten Bildungssystem (Schulsystem) etablieren soll. "Ein solches Bildungssystem stellt die gemeinsame Beschulung aller Kinder und Jugendlichen sicher und gewährt jedem Individuum die bestmögliche Förderung und Ausschöpfung seiner Potenziale" (Ilka Brenner 2017).
In der Praxis waren die letzten Jahre für die Schulen, die das Menschenrecht und die UN-Konvention umsetzen, turbulent. Neben den vermeintlich einfach umsetzbaren baulichen Maßnahmen ('nur' Geld), geht es darum, echte Inklusion auf Sparflamme zu fahren. Zu wenig Stunden für Sonderpädagog*innen an Regelschulen, mangelnde Fort- und Weiterbildung und viel zu niedrig angesetzte Stundenschlüssel sorgen dafür, dass Inklusion von wenigen Menschen geschultert wird. Sie gelingt dort, wo es kreative Gestalter*innen gibt, die das System für sich umschreiben und Grauzonen ausnutzen. Die jüngst mit dem deutschen Schulpreis ausgezeichnete Otfried-Preußler-Schule wurde u.a. auch für ihr inklusives Konzept ausgezeichnet. Merkmal ist das kreative Pool-Stunden-Modell für Schulbegleiter*innen, welches eine gute Betreuungssituation bieten soll. Paradox: Schon wenige Tage nach der Preisverleihung will die Stadt Hannover genau dieses Lösungsmodell aufkündigen (Quelle).
Doch all die genannten Widrigkeiten (und es sind garantiert noch mehr) sind im Grund nur die Folge eines systematischen Denkfehlers. Diesen haben wir in Deutschland exklusiv.
In 18 Ländern auf der Welt werden Kinder im Alter von 10 Jahren getrennt - 16 davon sind in Deutschland
Unsere Schule basiert auf Separation und Unterteilung. Es geht vielmehr um das Bewahren von Bildungsprivilegien als um echte und vor allem (bildungs-) gerechte inklusive Schulentwicklung. Das Festhalten an einem dreigliedrigen Schulsystem im inklusiven Kontext ist sinnfrei und führt den Begriff der Inklusion ad absurdum.
Ich arbeite in einem Schulzentrum in der Region Hannover. Auf das Gymnasium gehen zur Zeit ca. 800 und auf die Oberschule (ehemals Haupt- und Realschule) ca. 450 Schülerinnen und Schüler.
Alle, ich wiederhole ALLE Kinder und Jugendlichen mit den Förderschwerpunkten Lernen, Geistige Entwicklung und Sprache werden an unserer Schule (der Oberschule) angemeldet. Für vermutlich 90% der Kids mit ES (Emotional-Sozial) trifft dies auch zu. Das ist keine Inklusion. Für den aktuelle Jahrgang 5 (ich bin dort Klassenlehrer) heißt das konkret: 30% der Kinder haben einen nachgewiesenen Förderbedarf. Dazu kommen sicherlich 5-10%, die im Laufe der nächsten Zeit noch überprüft werden müssen. Weitere 25% des Jahrgangs haben Anspruch auf DAZ-Unterricht (Deutsch als Zweitsprache). Erst eine entsprechende Sprachkompetenz in der Bildungssprache Deutsch ermöglicht "Bildungserfolg" und gesellschaftliche Teilhabe.
Die Folge sind extrem heterogene Gruppen. Im Laufe der nächsten Jahrgänge kommen dann noch die dazu, die am Gymnasium aussortiert werden.
Um klar zu stellen: Mir geht es nicht darum einen Grabenkampf zwischen Gymnasien und den anderen Schulformen aufzumachen. Mir geht es um den Widerspruch aus trennendem Schulsystem und dem Gedanken der Inklusion.
Wenn wir aber wirklich Ernst machen mit inklusiver Bildung, dann sind die Folgen für das Bildungssystem, die Schule, den Unterricht und die Rolle der Lehrenden und Lernenden in diesem Kontext brachial und der Einschnitt so radikal, dass dies eigentlich zu einem massiven Umbruch von Schule und Unterricht führen müsste. Eigentlich.
In Niedersachen hatte man 2004 bereits eine einmalige Chance. Die seit 1981 eingeführte OS (Orientierungstufe) schloss sich direkt an die Grundschule an. Nach der vierten Klasse besuchten alle Kinder die 5. und 6. Klasse an einer OS, um danach in Gymnasium, Real- und Hauptschule sortiert zu werden ("ein feines Menschenbild" Anmerkung der Red.). 2004 wurde die OS abgeschafft. Und anstatt die gemeinsame Schulzeit aller Kinder bis Klasse 6 zu erhöhen und die Grundschulen zu stärken, entschied man sich die Kinder noch früher zu trennen. Mein Sohn wurde also vor zwei Jahren im Alter von 9 von seinen Schulkameraden getrennt. Die Entscheidung hierzu forderte man von uns als Eltern schon Monate vorher. Das drei-/mehr-gliedirige System erstickt so Inklusivität im Keim und fördert - im Gegenteil - den exklusiven Gedanken von Leistung. Magret Rasfeld spricht in diesem Kontext gerne vom Gymgen. Educated by birth.
Der Zwang zur Veränderung (Reform) des Schulsystems ist meines Erachtens offenkundig. Inklusion und Digitalisierung der Gesellschaft passen nicht wirklich in die gegebenen/traditionellen Strukturen. Eine, wie in manchen Bundesländern umgesetzte Zweigliedrigkeit kann nur ein Zwischenschritt sein. Lisa Rosa stellt in ihrem Beitrag Was ist dran an der Zweigliedrigkeit? von 2009 (!!!) die richtigen Fragen: "Kann die Reduktion der Mehrfachgliederung des Systems auf eine Zweigliedrigkeit die Probleme des deutschen Schulwesens wirklich lösen? Kann das berühmte Deutsche Gymnasium erhalten werden und doch gleichzeitig die negativen Effekte der selektierenden Unterscheidung von Schülern in gymnasial bildbar/nicht gymnasial bildbar vermieden werden?" Sie verweist anschließend u.a. auf den Artikel „Pragmatische Scheinlösungen oder ein demokratisches Schulsystem? Wider die Zweigliedrigkeit“ von Brigitte Schumann. Hier liefert Schumann Belege, dass eingliedrige Systeme in Bezug auf individuelle Förderung gegenüber den differenzierten Schulformen deutlich überlegen sind und hält ein Plädoyer für eine "Schule für Alle".
Die Möglichkeiten, die uns an unserer Schule die 1:1 Ausstattung (Tablets) der Schüler*innen im Kontext der Individualisierung ermöglichen - bei gleichzeitiger gelebter Vielfalt im Sinne der Inklusion - liegen sicherlich weit über dem, was Schumann vor 10 Jahren erahnt hat.
Fazit
Wir haben jetzt also zwei simple Möglichkeiten:
- Wir setzen Inklusion im Kontext der Digitalität konsequent um, leben und fördern Vielfalt und verabschieden uns von einem trennenden und krank machenden Schulsystem oder
- wir machen weiter wie bisher und haben eine sehr exklusive Deutung von Inklusion und Bildungsgerechtigkeit.
Bitte entscheiden Sie sich jetzt!