Sobald sich in Deutschland gesellschaftliche Defizite auftun, kommt der Gedanke auf, warum Schule sich nicht investiver mit dieser oder jener Thematik beschäftigt. Der Ruf nach einem eigenen Fach ist dann meist nicht weit weg. Glück, Achtsamkeit, Demokratiebildung, Medienbildung, Ernährung und viele weitere Themen sollten und könnten doch bitte schön (wohl portioniert) in Schule Einzug erhalten. Dies steht für mich symbolisch für das, was wir unter schulischer Bildung verstehen. Bildung in Deutschland ist geprägt von Ab- oder Ausgrenzung. Wir grenzen Schulformen voneinander ab. Durch den Schulwechsel nach Klasse 4 trennen wir z.T. neunjährige Kinder von ihren Peers. Wir trennen Fächer und Inhalte. Wir selektieren, separieren und unterteilen.
Gesellschaftlich ist jedoch Gegenteiliges zu beobachten: Einzelne Wissensgebiete verschwimmen, Lernen erfolgt interdisziplinär und kreative Antworten und Lösungen für die Probleme unserer Zeit sind gefragt. Die große Sorge um die Berechtigung der eigenen Fachdidaktik ist ständiger Begleiter der Diskussion. Fächerchauvinismus ist für mich ein Synonym unseres Bildungssystems: Mehrgliedriges, also trennendes Schulsystem und Inklusion sind aber nahezu diametral. Lernen im 45-Minuten-Takt ist nicht nur Gift für Gehirn und emotional geleitetes Lernen, sondern begünstigt die Lehre im Gleichschritt (siehe Kernproblem 3) und belegt, dass wir im informellen außerschulischen Kontext viel besser, effektiver, selbstbestimmter und vernetzter Lernen als in der extra für das Lernen geschaffenen Bildungseinrichtung (Wissen ist keine Kompetenz).
Im zweiten Teil dieser Beitragsreihe soll es nun darum gehen, wie wir den Kernproblemen aus dem ersten Beitrag im Entwicklungsfeld 'Unterricht' begegnen und so den Wandel von innen heraus gestalten können.
Du hast den ersten Beitrag verpasst? Nicht schlimm - hier kommt ein kurzer Recap:
Lernen im 21. Jahrhundert geschieht in Netzen. Kollaboration, Kooperation, Kreativität und kritisches Denken vollziehen sich im ständigen Austausch. Wer sich also ernsthaft mit Bildung beschäftigen will, muss versuchen, Verbindendes statt Trennendes zu entwickeln. Dafür braucht es Offenheit, Mut und einen Anfang.
Das Entwicklungsfeld 'Unterricht' bietet wie kein anderes die Chance, durch Beeinflussung des Verhaltens einzelner Personen Veränderungen hervorzubringen, da es am wenigsten von Verhältnissen abhängig ist. Du kannst schon morgen anfangen! Klar gibt es auch hier systemische Zwänge und Ketten und doch können wir alle im eigenen Mikrokosmos Kettensprenger sein. Lernen in Schule kann demnach schon heute problemorientiert, kontextbezogen, lernerzentriert und projektartig organisiert werden.
Themenorientierung und Projektlernen
Zum Schuljahr 2020/21 gehen wir an meiner Schule den Schritt weg von klassischen Fächern und organisieren Unterricht themenorientiert in Lernzeiten und Barcamps. Der Stundenplan ist nicht mehr geprägt von kleinen, nicht zusammenhängenden Portionen, sondern von längeren Lernzeiten, dem sog. THEO (Themenorientierten Unterricht). Unsere Lernenden erwarten vier Themenbereiche im Schuljahr, die vier Perspektiven zugeordnet werden. Diese Perspektiven bilden den roten Faden über die gesamte Schulzeit hinweg. Im themenorientierten Unterricht lernen die Schülerinnen und Schüler Themen in größeren Zusammenhängen zu denken und aus verschiedenen Blickrichtungen zu betrachten. Inhalte fusionieren zu Projekten, die über einen Zeitraum von 8 Wochen einen roten Faden bilden. Die Selbstständigkeit und Selbstverantwortung für das eigene Lernen sollen gestärkt werden, um Selbstwirksamkeit zu erfahren und Schule wieder als echten Lernort zu begreifen. Themenorientierter Unterricht steht für Mehrperspektivität, indem subjektive Perspektiven der Lernenden mit fachlichen Perspektiven verschmelzen. In jedem THEO erwartet die Schüler*innen ein Pflichtthema mit übergeordneter Kernaufgabe. Zusätzlich könne sie sich anschließend zwischen zwei Wahlthemen entscheiden und ein eigenes Forscherthema zur Perspektive generieren. Dieses Forscherthema kann direkt in den FreiDay (siehe unten) einfließen.
Projektorientiertes Arbeiten ist für uns Grundlage für vernetztes und zeitgemäßes Lernen und bietet allen Schülerinnen und Schülern die Möglichkeit, eigene Begabungen zu entdecken. "Lernen in Projekten oder Projektlernen bedeutet für Schüler, lebensnah durch praktisches Handeln Wissen zu erwerben und gleichzeitig die Gestaltungskraft ihrer Ideen im schulischen und gesellschaftlichen Umfeld zu erleben." (http://vielfalt-lernen.zum.de/wiki/Projektlernen).
Lisa Rosa zum Projektlernen: "Das meiste intentionale Lernen außerhalb von Schule läuft projektförmig, sogar unabhängig davon, ob den Lernenden das bewusst ist und ob sie bewusst ihre Lerntrajektorie planen (und die Planung immer wieder an die Realitäten anpassen). Wie hürdenarm und erfolgreich das Lernen eines Gegenstands tatsächlich verläuft, hängt allerdings auch von der Bewusstheit, Reflexionsfähigkeit und der Fähigkeit zur Projektplanung ab. Wer autodidaktisch ein größeres Vorhaben realisieren möchte, also etwa einen Marathon laufen, einen Garten anlegen, eine Fremdsprache lernen, ein Musikinstrument spielen, ein historisches Ereignis, die Funktionsweise unserer Ökonomie oder eine komplexe Theorie verstehen lernen möchte, der kommt gar nicht umhin, es projektförmig zu tun." (Quelle: Hauptlernform Projektlernen. Wie geht das?)
Insbesondere der Gedanke, nicht nur Lernwege sondern auch Lerninhalte zu öffnen, spricht mir in ihrem Beitrag aus der Seele: "Wir müssen dann also die ganze Sache didaktisch umkehren:
Nicht „Lernwege“ sind freizugeben bei festgelegten Inhalten, sondern spezifische Inhalte, Fragen und Ziele gehören in die Selbstbestimmung der Schüler*innen." (Quelle: Hauptlernform Projektlernen. Wie geht das?)
Dieser Grundgedanke ist der Kern des FreiDays für nachhaltige Entwicklung (s.u.). An diesem Tag geht es an unserer Schule bewusst darum, dass Lernende eigene Fragen entwickeln und eigene Inhalte auswählen. An den anderen Tagen sind im THEO die Inhalte zwar vorgeplant und in Pflichtthemen unterteilt, doch auch hier soll durch fächerübergreifende Zusammenhänge der projektartige Gedanke weitergelebt werden. Kern unserer Planung ist es daher, die Themen so aufzubereiten, dass sich die Fachperspektiven andocken können und unsere Schüler*innen die Zusammenhänge einfacher verstehen.
Bei der Formulierung der Kernaufgabe und Festlegung der Lerninhalte versuchen wir u.a. diese Leitfragen zu berücksichtigen:
- Wie fördern wir Handlungs- und Gestaltungskompetenz bei den SuS?
- Ist die Kernaufgabe überfachlich gedacht?
- Ist die Aufgabe in 5-6 Wochen (Aufwand) zu bearbeiten?
- Fördert die Aufgabenstellung die Selbstständigkeit der SuS?
- Sind die Inhalte für einen Wechsel im Doppeljahrgang geeignet (oder baut 6 auf 5 auf?)
- Dienen die Inhalte zur Beantwortung der Kernaufgabe und/oder sind sie ggf. weiterführend?
- Welches fachliche Wissen ist zwingend notwendig (Reduktion —> 5-6 Wochen für das Pflichtthema)?
- Gibt es Vernetzungen zu anderen Fächern?
- Ist Bedarf an sonderpädagogischer Unterstützung mitgedacht?
- Sind die 4K und die 8 Grundhaltungen mitgedacht/angedacht? (mehr im nächsten Beitrag (Teil3/5))
- Welche kreativen Aufgabenformate sind denkbar, um eine Vernetzung mit den anderen Fachbereichen herzustellen?
- ...
An der Konzeption und Erarbeitung beteiligen sich intensiv etwa ein Drittel des Kollegiums. Entstanden ist diese Übersicht, die das Lernen an der Oberschule Berenbostel strukturieren soll.
THEO und LEA
Dieses eigenverantwortliche und individualisierte Lernen soll im regelmäßigen Austausch mit uns als Lernbegleiter geschehen. Mehr dazu kannst du im nächsten Teil (Teil 3/5) lesen. Neben den THEO-Zeiten planen wir jeden Mittwoch kleine Barcamps stattfinden zu lassen. Die Sessions werden zu Beginn sicherlich überwiegend oder ganz von Lehrkräften und zukünftig verstärkt durch die Schülerinnen und Schüler selbst gestaltet werden. Inhaltlich bieten sich hier viele Optionen: vertiefender Austausch, Erklärungen und Fachvorträge, Fachinhalte, Medienschulungen uvm. Zudem können Inhalte, die in den THEO's schwierig einzubinden sind, in solche Sessions ausgelagert werden.
Bei aller Vorfreude und positiver Energie bleibt sicherlich auch die Sorge, dass diese Formen des geöffneten Unterrichts (Selbstorganisation und Offenheit) besonders für unsere Lernenden mit Einschränkungen (z.B. BaSU oder DAZ) eine große Hürde darstellen werden.
Individualisierung und FreiDay
Die größte Stärke von THEO besteht für mich darin, dass die Lernenden sich die Lernschritte möglichst eigenständig erschließen, das Erlernte anwenden & teilen, sowie ihr eigenes Lernen planen und reflektieren. Der Prozess des Lernens und der Lernorganisation liegt bei den Schüler*innen selbst. Um diesen Prozess bestmöglich zu unterstützen, planen wir die Themen über die digitale Plattform Padlet (Schullizenz) aufzubereiten. Hier sollen die Zusammenhänge für die Lernenden sichtbar werden, ohne dass die Inhalte zuerst von der Fachdisziplin her betrachtet werden.
Durch die miteinander verbundenen Unterthemen sollen möglichst authentische Lernsituationen erwachsen und ein 'echtes' Lerninteresse bei den Schüler*innen gefördert werden. So gewinnen dann auch die fachlichen Inhalte für die Lernenden an Relevanz.
Solch eine Entwicklung ist sicherlich ein Prozess. Es wird nicht von Anfang an funktionieren. Vorausschauend haben wir in den letzten zwei Jahren Weichen in diese Richtung gestellt. Hier sind Projekte wie das Wohnungsprojekt zu nennen, aber vor allem auch der FreiDay.
An unserer Schule gehen die Lernenden am FREI Day ihren eigenen Fragen, Interessen und Themen nach. Begleitet und unterstützt von den Klassenlehrer*innen werden einzelne Projekte in den Forumsstunden vorgestellt. Nach Vorlage des Konzeptes der Initiative ‚Schule im Aufbruch‘ geht es im Besonderen um die Ermöglichung von solchen Freiräumen, welche „zentrale Zukunftskompetenzen wie Mut und Vertrauen in Ungewissheit förder(n) und junge Menschen befähig(en), mit Volatilität, Unsicherheit, Komplexität und Ambiguität umzugehen. Der FREI DAY macht Schulen zu WERK-Stätten, WIRK-Stätten und TAT-Orten für weltverantwortliches Handeln.“ (https://www.frei-day.org).
Im Konzept heißt es unter anderem: "Der FREI DAY ist der Zukunftstag, mit mindestens vier Stunden jede Woche. Er ist ein strukturell verankerter Möglichkeitsraum für kreative innovative Ideen und Lösungen, ein Treiber für Kreativität und Innovationskraft, ein Gestaltungs-Raum für das Neue, was in die Welt kommen will. Am FREI DAY können sich Leidenschaften und Talente entfalten, Potenziale entdeckt und ausgebaut werden." (https://www.frei-day.org/konzept/)
Das klingt doch vielversprechend, oder?
Ein Modell, welches die genannten Veränderungen von Unterricht unterstützt, ist das Lernen durch Lehren. "Lernen durch Lehren (abgekürzt LdL) ist eine handlungsorientierte, konstruktivistische Unterrichtsmethode, bei der Schüler oder Studenten lernen, indem sie sich den Stoff gegenseitig vermitteln." (Quelle: Wikipedia)
Für einen kurzen Exkurs in die Welt von LdL konnte ich Isabelle Schuhladen (Webseite) gewinnen. Isabelle ist Lehrerin an der Dr.-Max-Josef-Metzger Realschule in Meitingen und als Expertin für LdL auf Veranstaltungen in ganz Deutschland gefragt.
Lernen durch Lehren
Gastbeitrag von Isabelle Schuhladen
Wie kann es uns gelingen, die neue Generation für eine Zukunft, die sich rasant und exponentiell entwickelt, fit und handlungsfähig zu machen, damit sie die Welt von morgen verbessern und dabei resilient und glücklich bleiben?
Das komplexe Konzept 'Lernen durch Lehren' von Prof. Jean-Pol Martin, das auf einem anthropologischen Menschenbild beruht, öffnet große Möglichkeiten einer nachhaltigen Veränderung der Bildungslandschaft.
Wenn ich mit Menschen arbeite, sollte ich ihre Bedürfnisse (Siehe Bedürfnispyramide nach Maslow) immer im Blick haben, denn unser Ziel ist glücklich zu sein. Zu diesen Bedürfnissen fügt Jean-Pol Martin noch das Denken hinzu. Menschen wollen auf der Gehirnebene gefordert werden, sodass sie die Möglichkeit zu reflektieren bekommen. Bei diesem Konzept ist die Klasse eine lernende Organisation, die sich als Gehirn bestehend aus Schülern*Innen, die sich wie Neuronen verhalten, metaphorisch darstellen lässt. In diesem Gehirn gibt es keine Hierarchie, dafür klare Verhaltensregeln, die die Teilnehmer dabei unterstützen, ihr Bedürfnis nach Kontrolle zu realisieren:
- Exploratives Verhalten
- Gegenseitiges Vertrauen, Mut, Neugier
- Fehlerkultur
- Schnelles Reagieren, dynamisches Handeln
Hier betreten die Teilnehmer stets unbekannte Felder auf ihrer Expedition. Schüler*Innen, die dieses Konzept erleben und mitgestalten, entfalten sich und wachsen über sich hinaus.
Dank diesem Konzept entwickeln die Schüler*Innen wichtige Kompetenzen fürs Leben:
- Sie wissen, was Menschen brauchen um glücklich zu sein und gehen achtsam mit ihren Mitmenschen um. Inklusion läuft in LdL-Klassen reibungslos.
- Sie sind flexibel und haben geübt, wie sie mit Unsicherheiten und Unklarheiten zu Recht kommen (In der aktuellen Pandemie-Situation erlebe ich täglich Menschen, die in dieser Hinsicht talentfrei sind).
- Sie konstruieren gemeinsam Wissen und wählen ihre Themen selber aus. Thematisch entfernen wir uns vom sogenannten Lehrplan.
- Sie reagieren schnell und selbstständig auf Veränderungen. LdL-Schüler*Innen zeigen große Selbstständigkeit bei Remote Learning. Ihre Projekte laufen weiter.
- Sie vernetzen sich um neue relevante Ressourcen anzudocken und entwickeln kollaborativ Lösungsansätze.
Die Lehrerrolle erlebt einen Paradigmenwechsel: Wir sind eine lernende Organisation!
Meiner Meinung nach ist das Konzept Lernen durch Lehren dank seiner vielfältigen Theorie und seines Menschenbildes aktueller denn je und fungiert hervorragend zum neuen Mindset, zum digitalen Wandel, zur Gesellschaft und zum Bildungssystem. Bei LdL lernen zuerst die Schülerinnen und Schüler viele Kompetenzen, um sich im Rahmen der Klasse als Gehirn als wichtige Ressource zu vernetzen. Automatisch erweitert sich die kognitive Lernkarte und sie suchen neue Möglichkeiten, ihre Konzepte außerhalb der Schule bekannt zu machen, sodass sich neue und wichtige Felder für die Erweiterung ihres Wissens öffnen. Diese Arbeitsweise und Umgang miteinander sind von zentraler Bedeutung für die sich stets entwickelnde Welt.
Hier eine Sammlung an Materialien unterschiedlicher Art zu Lernen durch Lehren an der Dr.-Max-Josef-Metzger Realschule (Meitingen/Augsburg).
Ausblick
Die skizzierten Veränderungen von Unterricht haben direkten Einfluss auf die Lehrperson. Diese Bezeichnung wirkt unpassender denn je. Das Selbstkonzept von uns Lehrerinnen und Lehrern verändert sich in einer Schule im Wandel mit. Um die Lernenden bestmöglich zu fördern und zu fordern wird auch viel von unserer Unterstützung, Lernbegleitung, Beratung und unserem Feedback abhängen. Im nächsten Beitrag (Teil 3/5) geht es daher um die Rolle der Lehrerinnen und Lehrer in diesem Prozess.
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Stefan (Sonntag, 07 Juni 2020 16:09)
Lieber Jan,
leider machst du immer noch denselben Fehler, den du dem Schulsystem vorwirfst: Du grenzt aus, statt zu verbinden!
Du qualifizierst ab, statt anzuerkennen, dass es auch Aspekte im System außerhalb deiner Schule gibt, die sinnvoll sind.
Das ist schade! Denn um Menschen von Neuem zu überzeugen, muss man Brücken bauen.
Klaus Amann (Montag, 08 Juni 2020 17:04)
Hallo Isabelle,
es klingt zwar toll, sich an 'Bedürfnissen' zu orientieren, wenn es um Lern- und Bildungsprozesse geht. Sobald man aber genauer nachfragt, wie sich aus 'Bedürfnissen' eine pädagogische Praxis gestalten lässt, wird man feststellen, dass Bedürfnisse nicht der Ausgangspunkt, sondern im Prozess gemeinsam entwickelte Beschreibungen von kulturellen Orientierungsmarken sind. Sie taugen meines Erachtens in keinem Fall als stabiler Bezugspunkt für pädagogisches Handeln.