Noch ein Artikel mit Ideen für digitale Lernmaterialien, mit Beispielen von Lernvideos oder Anleitungen zur Bereitstellung von Arbeitsblättern auf Lernplattformen, selbstverständlich mit Überwachung- und Rückmeldefunktion? Nein!
Unter den digital affinen Lehrkräften hat längst der Wettlauf um die besten Ideen für Homeschooling begonnen. Meine Ideen brauchst du nicht auch noch. Mit Genugtuung habe ich persönlich die Entscheidung des MK in Niedersachsen wahrgenommen: "Der Unterricht fällt ersatzlos aus" (Basisinformationen zu Covid19 des Kultusministeriums). Für die Schüler*innen bedeutet das: Endlich ist Zeit innezuhalten, zu entschleunigen, zur Ruhe zu kommen, Zeit für die Familie, Zeit über Träume, Ängste und Sorgen zu sprechen. Selbstwirksamkeit statt Fremdbestimmung. Da bleibt dann auch genug Freiraum für kreative Aufgaben, wie sie Tom Mittelbach anschaulich dargestellt hat:
Kritiker könnten anmerken, dass die Entscheidung in Niedersachsen vielleicht nur aus Mangel an digitaler Infrastruktur und verlässlicher Cloudlösungen gefallen ist. Und wenn schon.
Durch die Dienstpflicht für Lehrende (nicht zwingend Anwesenheitspflicht) ergeben sich nun unerwartete Chancen, um sich mit dem Thema 'Schule im Wandel' und echter Unterrichts(weiter)entwicklung zu beschäftigen. Jenseits der Digitalisierung dessen, was wir halt immer schon machen, haben wir die große Chance/Freiheit/Zeit/Ruhe, die wichtigen Fragen in Bezug auf Schule und Unterricht zu stellen:
Welche Vorstellung von Unterricht und Schule können wir entwickeln? Wie verändern und verbessern wir eine Schule, die von ihren Strukturen größtenteils noch so organisiert ist wie vor 100 Jahren gedacht? Welche zeitgemäße Vorstellung vom Lernen und vom Lehren wollen wir ausgestalten? (Mehr unter Schule: Im Land der Trichter und Lenker?!).
Durch das große Privileg der Lohnfortzahlung und sicheren Anstellung haben wir plötzlich ungeahnte Frei- bzw. Zeiträume uns diesen Fragen zu widmen - jenseits von täglicher Unterrichtsvor- und Nachbereitung, Korrekturstapeln, Elterngesprächen oder vielfältigen bürokratischen Zeifressern . Daher ist dieser Artikel nicht für deinen Homeschooling-Unterricht, sondern ganz allein für dich.
The secret of getting ahead ist getting started
Wie kann ein möglicher Fahrplan für die nächsten Wochen also aussehen? Was können Lehrer*innen beitragen, um den Transformationsprozess von Schule einzuleiten? Neben all der Ungewissheit, die mit dem Coronavirus und seinen Folgen einhergeht, bleiben sicherlich Zeiten zum:
- Lesen, denn ohne entsprechende theoretische Kenntnisse bleiben Entwicklungen rein auf der Erfahrungsdimension: "Meiner Erfahrung nach...",
- Vernetzen, denn ohne Schwarmintelligenz sind wir auf verlorenem Posten im 21.Jahrhundert: "Vom IQ zum WeQ" und
- Lernen, denn Lehrende sind auch immer selbst Lernende und Lebenslanges Lernen ist eine wichtige Dimension von Bildung: "Lehrer*innen sind Veränderungsagenten".
Lesen
Im normalen Lehreralltag bleibt wenig Zeit, sich mit Büchern jenseits der direkten Unterrichtspraxis zu beschäftige. An dieser Stelle also 4 Lesetipps aus der Buchwelt:
- Honegger, Beat Döbeli: Mehr als 0 und 1 – Schule in einer digitalisierten Welt, Bern 2016
- Fadel, Charles / Bialik, Maya / Trilling Bernie: Die vier Dimension der Bildung (deutsche Übersetzung), Hamburg 2017
- Lindner, Martin: Die Bildung und das Netz, Piding 2017
- Burow, Olaf-Axel: Schule digital - wie geht das? Weinheim Basel 2019
und 4 Lesetipps aus dem Netz:
Vernetzen
Vernetzung kostet am Anfang Zeit. Sich ein effektives persönliches Lern-Netzwerk (PLN) aufzubauen benötigt Zeit, die im Alltag fehlt. Es lohnt sich aber:
- Das Twitterlehrerzimmer - Wie geht das?
- Anmelden und Ausprobieren
- Warum jede Lehrperson ein PLN braucht
- Um sich auszutauschen braucht es nicht zwingend physische Treffen. Mit Anwendungen wie Jitsi oder Zoom könnt ihr bequem Videokonferenzen in euren Teams umsetzen.
Lernen
Die großen und kleinen Veranstaltungen wird es in naher Zukunft nicht geben. Du musst aber zum Glück nicht bis zur nächsten Molol oder Didacta warten:
- Du kannst mit dieser Selbstlerntheke eigenständig loslegen.
- Tu dich mit deinem Kollegium zusammen und nutzt das Angebot von Fobizz.
- Plant im Team langfristige und fächerübergreifende Projekte wie das Wohnungsprojekt und nutzt dafür gemeinsame Online-Dokumente (Googledocs, Iserv, Zumpad etc.).
- Die Sperrspitze bereitet für die Wochen nach der Schulschließung ein Konzept zu internen Fortbildung vor. Eine mögliche Variante können die sog. Mikrofortbildungen sein.
Wie du siehst: es gibt so Vieles zu lernen, egal wie lange du schon Lehrerin oder Lehrer bist. Viele dieser Einzelstellschrauben können einen Teil zur Ausgestaltung einer Schule im Wandel beitragen. Teile diesen Beitrag gerne mit deinem Kollegium.
Auch an meiner Schule wollen wir den eingeschlagenen Weg als Schule im Aufbruch fortsetzen. Zum nächsten Schuljahr soll der sog. Themenorientierte Unterricht (THEO) die klassische Schulstruktur mit Fächern ablösen. Inwiefern uns das im Homeoffice-Modus gelingt daran weiterzuarbeiten, wird man sehen.
In zukünftigen Beiträgen möchte ich konkrete Ansatzpunkte für einen Fahrplan des Change-Prozesses vorstellen, der sich den größten Kernproblemen unserer Schule und unseres Bildungssystems widmet:
- Die Werte unserer Schule sind die Werte des Industriezeitalters
- Fremdbestimmung ist das Paradigma unserer schulischen Lernorganisation
- Unsere Schule bietet wenig authentische Lernsituationen
- Unser Unterricht lässt keinen Platz für Leidenschaften und eigene Interessen der Lernenden
- Lehre im Gleichschritt widerspricht dem Gedanken von Individualisierung und Inklusion
Kling spannend, oder? Ich hoffe, wir lesen uns.
Bis dahin, bleib gesund.
Jan
PS:
Die in diesem Beitrag vorgestellten Anregungen um Impuls sind eine kleine Auswahl - ein Best-Of sozusagen. Klar hätte ich noch 99 weitere Ideen, aber ich möchte auffordern und nicht überfordern.