Digitale Schule. Das Ende der Kreidezeit. Schule 2.0. Das digitale Klassenzimmer. Smartboard reloaded. 4 und80zoll für ein Halleluja. Wer kennt sie nicht, die Blockbuster rund um die digitale Ausstattung von Schulen. Der Digitalpakt lässt grüßen. Das Geld will ausgegeben werden (bis zum Realitätsschock: Et voilà la réalité). Aber mal im Ernst: Macht sich eine Schule auf den Weg verstärkt mit digitalen Schülergeräten zu arbeiten (in unserem Fall iPads), stellt sich logischerweise die Frage nach den geeigneten Projektionsflächen. Meist - gerade in den Anfängen - müssen kreative Bastellösungen gefunden werden. Es sei denn, man bekommt zufällig eine neue Schule gebaut und/oder der Schulträger weiß nicht wohin mit der Kohle. Als sich meine Schule auf den Weg machte (noch bevor ich dorthin wechselte) wurden zunächst wenige einfache 55 Zoll-Fernseher (plus AppleTV von Ebay) angeschafft, um überhaupt loslegen zu können. Machen ist wie wollen, nur krasser lautete mal wieder die Devise. I love it. Abgelöst von 65 Zoll TVs haben wir die Displays parallel zu den grünen Tafel genutzt, um die Tafeln nun nach und nach durch neue Systeme mit integrierten 75 Zoll Bildschirmen abzulösen. Allerdings sind auch weiterhin mobile Lösungen angedacht oder kleine Projektionsflächen in Fluren denkbar. Keine Angst: auch die kleinen Fernseher wandern nicht auf den Müll, sondern werden in Besprechungsräumen und in der Sporthalle genutzt (siehe letztes Foto). Hier gilt wie so oft: Mischwald ist besser als Monokultur. In Anbetracht einer Schule im Wandel läuft unter dem Stichwort Mobiles Lernen hoffentlich mehr als die Einführung von Tabletklassen.
Und hier wird es jetzt wichtig. Denn egal ob Smartboards, Beamer, Whiteboard mit TV o.ä.: Die Frage nach der Umsetzung digitaler Bildung an Schulen ist eben keine der Technik, sondern eine der Pädagogik. Die Ausstattung der Klassenräume ohne die methodisch-didaktische Weiterentwicklung von Unterricht mitzudenken, ist zum Scheitern verurteilt. Erlebt haben wir das bereits mit dem ersten Konjunkturpaket 2009, mit den PC-Räumen davor und den Sprachlaboren davor. Heute haben wir dann halt ungenutzte Smartboards in Schulen, die bestenfalls als Medium für die Lehrperson - im schlechtesten Fall als Projektionsflächen von Filmen als Lückenfüller vor den Ferien genutzt werden.
"Wenn wir einen scheiß Prozess digitalisieren, dann haben wir einen scheiß digitalen Prozess"
Linkes Bild pixabay.com, rechtes Bild flickr.com
Wenn also die Schüler*innen jetzt statt auf Schiefertafeln auf Computern oder Tablets schreiben, die LEHRkraft statt auf Tafel jetzt am Smartboad/Beamer/TV den Unterricht inszeniert, was genau hat sich verändert? Das Setting des Lernens wohl kaum. Der Blick auf Unterrichtsentwicklung wird wieder geleitet aus der Perspektive der Lehre, der Wissens-, (schlimmer) Soffvermittlung. Damit bleibt der Klassenraum eine Lehrraum.
Was, wenn Unterricht aber z.B. anhand hier von mir ausgewählter und abgeänderter Fragen beleuchtet wird :
- Was tue ich, um Fachlernen nicht zu isolieren, sondern in größere Sinnzusammenhänge einzubetten, aus denen sich vernetzendes Denken entwickeln kann?
- Wie ermögliche ich Lernen an und aus der Erfahrung?
- Welchen Anteil haben Anschauung und Anwendung in meinem Unterricht?
- Was tue ich, um nicht nur Wissen zu vermitteln, sondern Verstehen zu lehren?
- Wie ermögliche ich Selbsttätigkeit und Selbstständigkeit?
(Beim Schulverbund Blick über den Zaun sind die Fragen unter der Rubrik 'Unser Leitbild einer guten Schule' zu finden.)
Vor diesem Hintergrund ergeben sich zwangsläufig Überlegungen zur Neustrukturierung von Raum- und Zeitkonzepten. Architektur, Mobiliar und technische Ausstattung müssen daher beim pädagogischen Konzept zwingend mitgedacht werden:
cc by Prof. Axel Burow https://www.if-future-design.de
Form follows function
Welche Funktion haben zukünftige Lernräume? Welche Perspektive des Lernens können wir einnehmen? Das Warum und Was des Lernens ist direkt mit dem Wo, Wie und Wann des Lernens verwoben. Dabei bemühe ich - sei es in Aus- oder Fortbildung - gerne dieses Bild, weil es im Kern um die Brille der Lernenden geht, wenn wir Schule endlich dem User anpassen wollen. Nennen wir das Bild zur Vereinfachung Bild A (wir brauchen es später noch).
cc by Stephanie Groshell educationrickshaw.com
Im Grunde gilt das gleiche für den Blick auf den konkreten Unterricht. Hier werden wir im Studienseminar zukünftig verstärkt mit der Methode Lesson Study arbeiten. "Lesson Study ist eine ideale Form, das Lernen durch die Augen der Schülerinnen und Schüler zu sehen und damit den Unterricht gemeinsam weiterzuentwickeln."
Diese Perspektive der Lernenden sollte bei der Umgestaltung von Lehrräumen zu Lernräumen zugrunde liegen. "Längst hat die Forschung gezeigt, wie groß der Einfluss ist, den Schulgebäude auf das Lernen haben. Räume und Möbel, Farbgestaltung, Lichteinfall, auch Gardinen und Frischluft wirken sich auf das Wohlbefinden von Lehrern und Schülern aus. (...) Menschen machen sich den Raum, der sie umgibt, zu eigen. Sie werden aber auch von ihm beeinflusst. Trotzdem wird "der Raum als dritter Pädagoge", ein geflügeltes Wort des verstorbenen italienischen Erziehungswissenschaftlers Loris Malaguzzi, bis heute nicht ernst genug genommen." (Anne Backhaus auf Zeit online Offene Denkräume).
Für ein zukunfts- und anschlussfähiges Lernen unter den Bedingungen der Digitalität ist neben der pädagogischen Wirkung des Raumes eben auch die technische Infrastruktur und Ausstattung von zentraler Bedeutung. Wenn also der Raum uns Menschen beeinflusst, dann eben auch sein Ausstattung. Werden große Projektionsflächen 1:1 an der selben Stelle durch digitale Flächen ersetzt, wird das Setting und unser Mindset kaum beeinflusst. Was im Umkehrschluss nicht bedeutet, dass wir nur durch das Abhängen von Tafeln Unterricht verändern. Obwohl dieses Experiment sicher interessant wäre.
So wurden bei uns an der Schule in der Tabletgruppe schnell die Stimmen laut, sich endlich von den alten Tafeln zu trennen. Die Gruppe hat bereits eine beachtliche Größe, da sich unsere Schule in kürzester Zeit von einer Tabletklasse zur 1:1 Schule von Jahrgang 5-10 mit Vollaustattung zu bewegt. Auch deshalb mussten an vielen Stellen kreative Lösungen gefunden werden (siehe oben).
Wenn sich dann plötzlich die gewohnte Umgebung verändert (13 Jahre Schule, 5 Jahre Uni Lernen am Modell) ist natürlich eine gewisse Hilflosigkeit nachvollziehbar. In Mikrofortbildungen, wie z.B. „Mein Leben ohne Tafel und Kreide“, versuchen wir zunächst Hilfestellung zu geben. Hier geht es zwar erstmal um so etwas wie Substitution, aber es lässt die Kolleginnen und Kollegen die Tafel weniger schmerzlich vermissen. Ja, richtig: Schmerz. Jedes Verlassen der Komfortzone kann zunächst ein wenig weh tun. Es ist allerdings ein positiver Schmerz - vergleichbar wie beim Muskelwachstum. Die Kultur der Digitalität verändert Rollen und Zugänge. Lehrkräfte sind keine Gatekeeper des Wissens und die Schule hat kein Wissensmonopol (mehr?!). Dass diese Veränderung zu Unsicherheiten bei den Lehrenden (und in Teilen vielleicht auch bei Lernenden?!) führt ist daher ganz normal (mehr dazu unter Komfortzonenverteidigung). Denn der Schritt out of the box (siehe Bild A) ist ein wenig wie Fitnessstudio: Zuerst hat man kein Bock und muss sich aufraffen. Danach fühlt man sich um so besser.
Victor Freitas auf unsplah.com
Die Lümmel von der letzten Bank
Die Projektionsfläche muss möglichst groß sein. Mindestens Tafelgröße. Dann braucht man sich auch nicht umstellen. Apropos umstellen. Wie wäre es mit umstellen. Und zwar Tische und Stühle. So wie in Bild A (rechte Seite!). Dann wandelt sich der Raum von Lehrperspektive in die Lernperspektive. Denn bei aller Liebe zu höher, schneller, breiter im Fernsehmarkt haben die Schüler*innen im Wunschszenario eigene Kulturzugangsgeräte (z.B. Tablets). Sie verfügen also über ein Display mit Zoomfunktion und der Möglichkeit mit anderen über verschiedenste Anwendungen (Padlet, Bitpaper etc.) zusammen zu arbeiten. Durch die eigenen Netzgeräte erhalten alle im Klassenraum Zugang zu Bildung und die Möglichkeit zur Teilhabe (will das unser Bildungssystem überhaupt?), Stichwort Inklusion - dazu gleich mehr. "Jeder wird im Transformationsprozess zum Sender und jeder zum Empfänger" (Die Vernetzung der Welt verstört). Nicht nur die Lehrperson sendet!
Die Welt ist also nicht nur durch das Smartphone selbst flach (Die Welt ist flach: Eine kurze Geschichte des 21. Jahrhunderts), sondern auch weil Grenzen wegfallen. Nur die in unserem Kopf nicht? Das die-letzte-Reihe-sieht-doch-nichts-Argument hält nur solange wie es die letzte Reihe gibt. Um echte Innovation zu ermöglichen, um Schul- und Unterrichtsräume sowie -Settings neu zu denken, fehlt uns oft der Blick von außen. Als Beteiligte des Systems sind wir sozusagen blind für Veränderungen außerhalb unseres Horizonts. Die Systemtheorie nach Luhmann beschreibt diesen Zustand treffend: "Ein System kann nur sehen, was es sehen kann, es kann nicht sehen, was es nicht sehen kann. Es kann auch nicht sehen, dass es nicht sehen kann, was es nicht sehen kann." (Niklas Luhmann)
Inklusiv-digitale Bildung: Das Ende vom Gleichschritt
Um das tradierte Betriebssystem schulischer Bildung im Sinne seiner User zu hacken, bedarf es weitreichender Veränderungen besonders in vier Entwicklungsfeldern: Schulorganisation, Unterricht, Schulleitung und der Rolle der Lehrenden. Digitale Bildung in Verbindung mit echter inklusiver Schule setzt genau an den zentralen Stellschrauben (Prozessen) der Schule an (Vom Ende der Schule).
cc by Jan Vedder www.vedducation.de
Für uns Lehrende bedeuten Veränderungsprozesse im inklusiv-digitalen Umfeld, dass wir an unserer Fähigkeit arbeiten müssen, loszulassen. "Für Lehrende alter Schule sind der verengte Informationskanal und der künstliche Wissensvorsprung im Klassenzimmer notwendig für die eigene Rollensicherheit" (Lindner 2018). Die neue Rolle verlangt jedoch viel mehr als die Fähigkeit des oft selbst erlebten 'Frontaldompteurs'. Die Entwicklung vom Sage on the Stage zum Guide on the Side ist unausweichlich (Inklusion + Digitalisierung). Das Bild von Schülerinnen und Schülern, die trichterartig neues Wissen schlucken und es dann pünktlich zur Klassenarbeit wieder ausspucken, ist allen Lehrkräften bekannt (Schule: Im Land der Trichter und Lenker?!). Aber was ändert sich? Lernen im Gleichschritt und gemeinsame zentrale Phasen müssten längst deutlich weniger werden, wenn wir Inklusion und Mobiles Lernen tatsächlich ernst machen würden (siehe Bild A).
Philipp Krüger schreibt dazu auf seinem Blog 'Mut zur Inklusion': "Da ich der Überzeugung bin, dass wir Pädagogen den Raum nicht als etwas Gegebenes hinnehmen dürfen (...), bin ich zugleich der Meinung, dass wir nicht warten sollten bis das Geld fließt oder die neuen Schulen stehen. Es lohnt sich vielmehr schon heute mit der (Um)Gestaltung unserer Schulen und Räume zu beginnen." Recht hat er. Doch was hat das nun mit Beamer und Bildschirmdiagonalen zu tun?
Ganz einfach: Um die Haltung von Unterrichtenden zum Unterrichten (Lernen statt Lehren) zu verändern, reichen keine Vorträge. Es bedarf sanfter Änderungen z.B. im räumlichen Setting. Ich habe die letzten 1,5 Jahre einen 65-Zoll-TV genutzt. Natürlich hatte das Auswirkungen auf meinen Unterricht. Grundlage für mein didaktisch-methodisches Vorgehen bildet das AVIVA-Modell für kompetenzorientierten Unterricht - "ein Fünfphasen-Modell für einen wirkungsvollen Unterricht." Im Zentrum stehen durch das indirekte Vorgehen neben fachlichem Wissen vor allem metakognitive Strategien zur Selbststeuerung des eigenen Lernprozesses. Wenn Schüler*innen nicht themengleich am selben Punkt ihres Lernens stehen, gibt es wenig Anlass zum Frontalsetting mit der ganzen Klasse. Beim Wohnungsprojekt (Praxis: Das Wohnungsprojekt - Zeitgemäßer Matheunterricht) nutzte ich gemeinsame Bildschirmzeit (am TV) vermehrt für Kleingruppen. Dabei war die dezentrale Postion des Screens mehr Vorteil als Nachteil.
Abgesehen von eigenen Unterrichtserfahrungen, erlebe ich Ergebnissicherungen in Großgruppen in den meisten Unterrichtsbesuchen am Seminar als wenig effektiv, zielführend oder aktivierend. Rückschlüsse aus der Lesson Study Methode zeigen, dass die Aktivierung (gemessen am Komplexitätsniveau) in so einem Setting höchst divergent ist. Bei einer extremen Heterogenität in Klassenräumen verwundert das nicht. Für mich ein weiteres Plädoyer diese Phasen eher zu minimieren. Das macht große Projektionsflächen weiter entbehrlicher.
Blick über den Tellerrand
Wenn doch nur genug Geld da wäre und wenn Bildung doch nur einen höheren Stellenwert in Politik und Gesellschaft hätte... Dann könnten wir das Thema Lernraum ganz neu denken und bauen. Ja, wenn. Was dann möglich wäre, hier exemplarisch:
In der Hellerup-Schule in Dänemark gibt es keine Klassenzimmer und auch keine Schulglocke. Im Mittelpunkt steht das eigenständige Lernen der Schüler*innen: Schulporträt: Hellerup Skole, Dänemark. Input-Räume, Marktplatz, Lernatelier – an der Alemannenschule Wutöschingen gibt es kaum noch "richtige" Klassenzimmer: Schulporträt: Alemannenschule Wutöschingen.
Viele weitere Inspirationen und Impulse zur Veränderung von Lernorten gibt es hier.
Fazit
Natürlich sind die Entscheidungen für Projektionssysteme nicht das entscheidende Puzzleteil bei der Weiterentwicklung von Schule und Unterricht. Meine Ausführungen haben aber gezeigt, dass die Lernräume das Handeln ihrer Protagonisten bestimmen und dass eine Entscheidung für bestimmte Produkte nicht ohne Zusammenhang mit einer pädagogischen Grundidee der Schule erfolgen sollte. In geeigneten Arbeitskreisen lassen sich also Entscheidungen diskutieren und ausloten, die einer offenen Entwicklung förderlich sind und flexibel nutzbare Raumkonzepte ermöglichen. Vielleicht können solche Entscheidungen dann auch Trigger sein, um sein eigenes Lehrerhandeln vor der Klasse zu hinterfragen. Bestenfalls.
PS: Wehe hier klickt jemand auf alle Querverweise!