Schule: Im Land der Trichter und Lenker?!

Als kritischer Lehrer hält man sich von Zeit zu Zeit den Spiegel vor und reflektiert seinen Unterricht oder (noch besser:) sein Konzept von Unterricht. In der Ausbildung im Studienseminar regen wir zukünftige Lehrkräfte zur Arbeit am beruflichen Selbstkonzept an. Welche Vorstellung von Unterricht und Schule entwickeln wir und setzen sie um? Wie verändern und verbessern wir eine Schule, die von ihren Strukturen größtenteils noch so organisiert ist wie vor 100 Jahren gedacht? Wann tragen wir den sterbenden Patienten zu Grabe und entwickeln eine zeitgemäße Vision von Lernen und Lehren? 

 

Beachte: Dieser Beitrag liefert mehr Fragen als Antworten.

 

Zeitreise

Vor ziemlich genau 14 Jahren wurde uns Referendaren ein Film über das finnische Schulsystem gezeigt (frei nach dem Motto: Von Finnland lernen heißt Siegen lernen). Anschließend hielten wir uns für kreativ und innovativ: Wir wollten endlich auch das deutsche Schulsystem reformieren. Der PISA-Schock war noch immer nicht ganz überwunden und es war an der Zeit Schule "neu zu denken".

Zeit für Veränderung!

 

Zeitsprung ins Jahr 2018: Was hat sich eigentlich verändert? Unterrichten wir nicht immer noch überwiegend die gleichen Inhalte wie vor 60 Jahren, in den genauso alten Gebäuden, im ewig gleichen Fächerkanon und in noch viel älteren Strukturen (45 Minuten Takt ausgerufen am 22.08.1911)?

 

Wie mag es da wohl Zeitreisenden aus dem vorletzten Jahrhundert ergehen... Chirurgen wären wohl völlig verloren beim Anblick eines modernen Operationssaal. Und Lehrerinnen und Lehrer? Sie würden wohl die meisten Vorgänge schnell nachvollziehen und den Unterricht womöglich ohne Schwierigkeiten übernehmen können (Vgl. Zeitreise von Seymour Hapert).

 

"Der Mensch lernt, nur die Ochsen büffeln"

Das Zitat von Erich Kästner bringt es auf den Punkt: Heißt Lernen tatsächlich Pauken oder Büffeln? Das Bild von Schülerinnen und Schülern, die trichterartig neues Wissen schlucken und es dann pünktlich zur Klassenarbeit wieder ausspucken, ist allen Lehrkräften bekannt. Aber was ändert sich? Sind die zukünftigen Gestalter unserer Gesellschaft so wirklich auf die Herausforderungen vorbereitet?

In der Schule geht es (immer noch) um Unterrichtsversorgung, Unterrichtsstoff, Wissensvermittlung, Leistungsmessung, Lob und Tadel. Junge Menschen werden unter Druck gesetzt um Leistung zu erbringen. Das nennt sich dann Bildung. In vielen Fällen macht das weder schlau noch dumm, sondern krank. Was für ein Menschenbild entwickeln wir eigentlich an Schule?

Befriedigt die Schule die Bedürfnisse ihrer Schüler oder die Bedürfnisse der Insdustriegesellschaft, die gar nicht mehr existiert? Die Wirtschaft sucht längst nicht mehr nach dressierten und gehorsamen Mitarbeitern. Gefragt sind Offenheit, Kreativität und Eigenverantwortung. Den Rest erledigen in Zukunft vermehrt Maschinen.

Gespeichertes Wissen ist in der digitalen Gesellschaft nur noch wenig gefragt. "Reproduktion von Fachwissen verliert rasant an Wert, weil es besonders gut digitalisiert werden kann. Früher genügte das in der Schule erworbene Allgemeinwissen für die Teilhabe am Großteil des gesellschaftlichen Lebens aus." schreibt Dejan Mihajlovic dazu in seinem lesenswerten Beitrag Kommunikation, Kollaboration, Kreativität und kritisches Denken – mehr als Buzzwords.

 

CC-BY-ND 4.0 Miikaa Salavuo Quelle: HIER Bild: digitalart

Reform?

Es ist ja nicht so, dass es in den letzten Jahrzehnten nicht genug reformpädagogische Ansätze gegeben hätte (Montessori, von Hentig etc.). Aktuelle Beispiele sind im Schulverbund Blick über den Zaun zu finden. Passend dazu an dieser Stelle einige ausgewählte Leitfragen, die unter der Rubrik 'Unser Leitbild einer guten Schule' zu finden sind. Ich habe diese Fragen dahingehend abgeändert, dass sie nicht an die Schule, sondern an mich und meinen Unterricht gerichtet sind:

  • Was tue ich, um Fachlernen nicht zu isolieren, sondern in größere Sinnzusammenhänge einzubetten, aus denen sich vernetzendes Denken entwickeln kann?
  • Wie ermögliche ich Lernen an und aus der Erfahrung?
  • Welchen Anteil haben Anschauung und Anwendung in meinem Unterricht?
  • Was tue ich, um nicht nur Wissen zu vermitteln, sondern Verstehen zu lehren?
  • Wie ermögliche ich Selbsttätigkeit und Selbstständigkeit?
  • Wie fehlerfreundlich ist mein eigener Unterricht?
  • Was tue sich, um Zeit zu geben für try and error, Erforschen und Erproben? 

Wenn diese Fragen auf die eigene Unterrichtsrealität treffen, die dazu noch im Spannungsfeld von Lehrerausbildung zu betrachten sind, kann der Blick in den Spiegel schon leer ausfallen.

Der Anspruch an einen individualisierten, offenen Unterricht, der Selbstständigkeit und Selbstentdeckendes (autonomes) Lernen fördert wird schier riesig. Das Ganze dann bitte schön noch selbstreguliert und projektartig!

 

In diesem Zusammenhang ist der praktizierte offene (eher geöffnete) Unterricht (Stationsarbeit, Experten, Wochenplan, Lerntheke, etc.) vielleicht mehr ein Deckmantel von Trichter und Lehrerlenkung. Denn der Spagat Vorgaben des Lehrplans erfüllen zu müssen und auf die Wünsche, Interesse und Leidenschaften der Kinder und Jugendlichen einzugehen kann schwerlich gelingen. Bei den genannten Methoden bleibt das Setting durch die Lehrkraft inszeniert, die entsprechende Materialen auswählt und (bestenfalls differenziert) bereitstellt. Schülerorientierung als Mogelpackung? Lässt sich der Gegensatz aus Lenkung durch Lehrende und Selbstverantwortung durch Lernende vielleicht gar nicht an Fächern und Inhalten festmachen, sondern nur auf der Beziehungsebene? Verpufft jegliches Lernen, wenn die Selbstwirksamkeit fehlt? Kinder und Jugendliche brauchen dafür Modelle bzw. Vorbilder emotionaler Resonanz. Schülerinnen und Schüler müssen also Erfahrungen über den Zusammenhang von Handeln und Fühlen sammeln. Dabei geht es zumindest vordergründig gar nicht um Inhalte, sondern um Interesse, Anerkennung und Wertschätzung.

 

Digitale Bildung - das Allheilmittel?

Der Zwang zur Veränderung des Schulsystems ist offenkundig. Inklusion und Digitalisierung der Gesellschaft passen nicht in die oben beschriebenen Strukturen. In der digitalen Bildung sehen viele Enthusiasten (wie ich) und Early Adapter den Hebel und Schlüssel zur einer nachhaltigen Runderneuerung von Schule. Dass sich dabei Reformpädagogik und digitale Bildung nicht widersprechen, sondern das Potential haben Hand in Hand das Schulsystem im Sinne der Schülerinnen und Schüler (und Lehrerinn und Lehrer?) neu auszurichten, ist eine wesentliche Erkenntnis (Reformpädagogik und Digitalisierung: Gemeinsam stark).

 

Hier liegt aber zugleich die größte Herausforderung. Was verstehen wir unter einer digitalen Bildung?

Diplom-Pädagoge Jöran Muuß-Merholz bringt es auf den Punkt: "Aber die entscheidende Frage ist doch: Optimieren wir hier nur die Schule des 19. und 20. Jahrhunderts? Verhindert die Rede von „digitaler Bildung“ sogar den notwendigen Paradigmenwandel?"

Konkret: Wird die Stationsarbeit jetzt über Moodle organisiert? Bereiten wir die Kinder und Jugendlichen jetzt mit Kahoot (frei nach dem Motto: Make Learning Awesome! Ganz ohne Anstrengung?) auf Klassenarbeiten vor? Ist das hochhalten von QR-Codes (Plickers) die Antwort auf die Herausforderungen der digitalen Gesellschaft? Ist das Konzept des Flipped Classroom nur ein modernes Codewort für Frontalunterricht und Trichter-Lernen?

Axel Krommer im Blogbeitrag Notwendige Neologismen: "Palliative Didaktik"

 

Das Bild vom "erkrankten" Schulsystem bringt es auf den Punkt. Um in Sinne der zukünftigen Generationen und Gesellschaft einen echten Lernraum zu gestalten, bedarf es mehr als Smartboards und Tablets. Dennoch sind kleine Schritte notwendig, um als Lehrkraft selbst die Notwendigkeit zur Veränderung zu erkennen. Für eine nachhaltige Veränderung des Lernorts Schule sind sowohl die Lehrerschaft als auch die Politik in der Verantwortung. Nicht Apple, Google oder Amazon.